NDR Kultur - Korrespondenz

Brief von Herrn Jühlke an G. Romann, 16. September 2004
Frau Mirow antwortet für Herrn Romann, 17. Dezember 2004

Märchenstunde mit der Wellenchefin?

Längere klassische Werke haben wir im Tagesprogramm von NDR Kultur, respektive Radio 3, respektive NDR 3 immer nur in Ausnahmefällen gespielt

Tatsachen statt Märchen (Teil 1):
Beispiele für die Matinee aus der von Frau Mirow angesprochenen Zeit

 NDR 3: 8. Juli 1996 Radio 3: 29. Juni 1998 Radio 3: 30. Juni 1998

Auswahl der 11 gezeigten Sendungen dieser Seite, 1996 - 1999 (im Original, Pdf-Datei - 70 kb)

Sechs ganze Seiten aus dem DAMPF-RADIO, 1996 - 1999 (im Original, Pdf-Datei - 1,28 MB!)

Antwortbrief im Original (Pdf)

Norddeutscher Rundfunk | NDR Kultur | 20140 Hamburg

Herrn
Herbert Jühlke

b.mirow@ndr.de | 17. Dezember 2004

Sehr geehrter Herr Jühlke,

ich bedanke mich für Ihren Brief vom 24. September, den mich der Programmdirektor des NDR, Herr Romann, gebeten hat, zu beantworten. Ich bitte um Nachsicht, dass ich heute erst dazu komme, Ihnen zu schreiben.

Auf die Programmreform von NDR Kultur bekommen wir auch fast zwei Jahre nach Umstellung des Programms immer noch viele Briefe von Hörerinnen und Hörern. Die Reaktionen sind inzwischen überwiegend positiv, dabei wird vor allem die als gelungen empfundene Mischung eines anregenden Musik- und informativen, tagesaktuellen Wortprogramm hervorgehoben. Aber ganz bleibt Kritik nie aus, das zeigt Ihr Brief.

Um "mainstream" geht es NDR Kultur nicht, auch steht die Quote nicht im Vordergrund. Wenn Sie sich aber vergegenwärtigen, dass Quote nichts anderes bedeutet als Akzeptanz bei Hörerinnen und Hörern, dann werden Sie mir zustimmen, dass dies als Legitimation für die Arbeit eines solidar-finanzierten Mediums von Bedeutung ist.

Bitte lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zugleich ein Missverständnis richtig stellen: Längere klassische Werke haben wir im Tagesprogramm von NDR Kultur, respektive Radio 3, respektive NDR 3 immer nur in Ausnahmefällen gespielt. Einen Zusammenhang mit der Programmreform gibt es nicht.

Ungekürzt können Sie die Werke der großen Meister selbstverständlich im Abendprogramm von NDR Kultur genießen. Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang die regelmäßigen Konzertübertragungen am Montag und am Freitag sowie die Sendereihe "Konzert" am Sonntagabend.

Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr.

Mit freundlichen Grüßen
gez. Barbara Mirow
(NDR Kultur Leitung)

Kommentar von Theodor Clostermann:

"Längere Werke" - "ungekürzte Werke im Abendprogramm"

Entscheidend ist nicht, ob "längere Werke" gesendet werden oder nicht. Herr Jühlke schrieb von "den unvergänglichen Werken der großen Meister in ungekürzter Form". Der Hinweis auf die Länge lenkt eher davon ab, ob ein Werk - in jedem Fall ein Instrumentalwerk - vollständig erklingt oder nicht. Der Hinweis auf das Abendprogramm weicht der Kritik von Herrn Jühlke an dem Tagesprogramm direkt aus (Das ist ein fester Bestandteil aller Antworten vom NDR).

Durch die Kombination - "längere Werke" auch früher "nur in Ausnahmefällen" und "ungekürzte Werke" heute "im Abendprogramm" - gibt Frau Mirow immerhin zu, dass es heute zwischen 6 und 19 Uhr, also tagsüber, keine längeren vollständigen Werke mehr gibt. Die kann es in der Praxis tagsüber auch gar nicht geben: Man findet nach aller Erfahrung kein gesendetes Musikstück finden, dass länger als 15 Minuten dauert, weil NDR Kultur mit seiner Format-Stunde
- um Viertel nach
- um halb
- um Viertel vor und
- zur vollen Stunde
mindestens ein Texterlebnis dem Musikliebhaber untermischen will (ein Kultur-Event, und sei es eine NDR-Kultur-Eigenwerbung).

Warum dieses Märchen?

Der NDR zu NDR Kultur
Originaltext der Homepage (NDR-ABC)
:
NDR Kultur ist seit Anfang 2003 der Name des Kulturprogramms für Deutschlands Norden. Seine Anfänge reichen in das Jahr 1954 zurück, als der damalige NWDR an den Abenden zwischen Weihnachten und Neujahr spezielle Musik- und Literatursendungen als "Drittes Programm" ausstrahlte. Vom 1. Dezember 1956 an wurde aus dem Versuch eine Dauereinrichtung, an der sich von 1962 bis 1973 der SFB als Mitherausgeber beteiligte. Vom Herbst 1997 an wurde NDR 3 gemeinsam mit ORB und SFB unter dem Namen Radio 3 betrieben.

So weit im Grunde also eine Klarstellung der Wellenchefin. Ärgerlich ist jedoch in Behauptung, die sie - angeblich um ein Missverständnis richtig zu stellen - in diesem Zusammenhang aufstellt:
     Längere klassische Werke haben wir
     im Tagesprogramm von NDR Kultur,
     respektive Radio 3, respektive NDR 3
     immer nur in Ausnahmefällen gespielt.

Die "Ausnahmefälle" waren für Instrumentalwerke (Sinfonien, Konzerte, Kammermusik) bei den Sendungen Matinee, Concerto, Serenade von NDR 3 und Radio 3 und bei der Sendung Notturno von NDR 3 die Regel. Ab Herbst 1997 kam unter Radio 3 die Tendenz auf, Sendungen mit "längeren Werke" durch kürzere wie Ouvertüren und Einzeltanzsätze aufzulockern, die Sendung Notturno wurde dann bald zu einem Mischmaschprogramm mit Geplauder, einer Vorform von NDR Kultur.

Die Geschichte, dass es auch schon bei NDR 3 und Radio 3 keine "längeren Werke" gegeben habe, ist ein Standardargument von Frau Mirow. Schon bei meinem ersten Telefonkontakt mit ihr am 22. April 2004, drei Tage vor dem Beschluss der Resolution der Hamburger Telemann-Gesellschaft zu NDR-Kultur, hat sie mir dieses Argument aufgetischt.

Der NDR zu Barbara Mirow
Originaltext des NDR-Presseportals
:
Nach dem Abitur studierte sie Germanistik und Philosophie an der Universität ihrer Heimatstadt. Nach dem Staatsexamen volontierte sie ab 1982 bei der Deutschen Welle in Köln. 1983 zog sie nach Hamburg und arbeitete als freie Journalistin u.a. für die Deutsche Welle und bei Dokumentarfilmproduktionen. 1986 kam Barbara Mirow als Redakteurin in die zentrale Hörfunk-Nachrichtenredaktion des NDR. 1996 wurde sie deren stellvertretende Leiterin, seit 1997 leitet sie diesen Bereich.
Ich habe ihr gegenüber den Sachverhalt richtig gestellt, wie im Absatz zuvor, sie hat dies inzwischen wohl wieder vergessen - oder verdrängt. Zu ihrer Entschuldigung mag auch gelten, dass sie vor ihrem Dienstantritt bei NDR Kultur am 5. September 2003 direkt mit NDR 3, Radio 3 oder NDR Kultur nichts zu tun hatte (siehe Übersicht des NDR zu ihrer Person). Deshalb: "Märchen". Um den Mantel des Unbekannten zu lüften, zeigen wir auf dieser Seite Tatsachen für die Zeit von 1996 bis 1999. Wie gut, dass ich meine vier letzten Jahrgänge der Radio-Programmzeitschrift DAMPF-RADIO nicht entsorgt hatte (im Jahr 2000 hatten ARD und Telekom das Digitale Satelliten-Radio - DSL - abgeschaltet, dort waren die meisten deutschen Kultursender zu hören). Die Beispiele lassen sich also (fast) ohne Ende ergänzen.

Zum guten Schluss: Die Forelle

Bleibt zum Brief noch nachzutragen, dass Herr Jühlke mit seiner Ironie nicht ganz verkehrt lag. Am 30. Dezember 2004 schrieb eine Hörerin empört an Intendant Plog und an die Vorsitzende des Rundfunkrates Gräfin Kerssenbrock:

Drei Vorschläge, um das Programm noch populärer zu machen (H. Jühlke):
Möglichst häufig die Kaffee-Kantate von Johann Sebastian Bach, BWV 211, anspielen oder einen Satz aus der Wassermusik von Georg Friedrich Händel bringen und den Hörern die Frage stellen, um welche Getränke es sich hier jeweils handele; bei richtigen Antworten gäbe es dann 1 Pfund Kaffee oder eine Kiste Wasser zu gewinnen. Auch ein Satz aus dem Forellen-Quintett von Franz Schubert wäre denkbar, warum nicht einen Fisch ausloben? Damit können Sie glatt Klassik-Radio übertrumpfen.

Heute abend gegen 23.10 Uhr musste ich eine Ansage hören, deren geistiges Niveau ich als geradezu unterirdisch empfinde, und die sinngemäß wie folgt lautete:
Ein Moderator (...) stellte die Frage,
was man traditionell an Silvester zu essen pflege, und empfahl Forelle, dieses im direkten Zusammenhang mit der Ansage für den Variationssatz aus Franz Schuberts "Forellenquintett".

 

Tatsachen statt Märchen (Teil 2):
3x Matinee im Januar 1999 auf Radio 3

 Radio 3: 14. Januar 1999 Radio 3: 17. Januar 1999 Radio 3: 20. Januar 1999

Tatsachen statt Märchen (Teil 3):
Fünf Musiksendungen von Sonntag, 17. Januar 1999

 Auftakt Kantate Matinee Concerto

 Serenade

Tatsachen statt Märchen (Teil 4):
1x Notturno - vor der frühen Stückelei unter Radio 3

 NDR 3: 8. Juli 1996

Quelle der Programm-Vorschauen:
Dampf-Radio Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 228, 53922 Kall
Quelle der Zeitangaben auf den Einzelseiten (mit Ausnahme der Internet-Links):
SMA 92, Systematisches Musik-Archiv, © Th. Clostermann, Hamburg und Reinbek, 1992-2000

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