NDR Kultur - Korrespondenz

Barbara Mirow am 16. November 2004 zu Einzelsätzen

Am Tag, als die Wellenchefin ihren Brief für Herrn Schrader schreibt

Innere Geschlossenheit einzelner Sätze - Live erlebt im Klassik-Mix

von Carsten Molnar

16. November. Nehmen wir einmal an, es ist 15 Uhr und xx Minuten. Schön diese Sinfonia concertante von Ignaz Pleyel (1757 - 1831). (Pardon, es sind nur Satz 2 und 3). Na ja, ein bisschen verstaubt ist diese Aufnahme aus Zürich. Kennt man inzwischen auch schon. Frau Mirow sitzt da und überlegt, was sie Herrn Schrader antworten soll. Der hat ja seine Kritik wirklich geschickt zusammen gemixt:

Die schlimmste Neuerung ist die Aneinanderreihung einzelner Symphonie- bzw. Sonatensätze, unterbrochen von Jingles, Prominentenwerbeblöcken oder nüchternen An- und Absagen, garniert mit angelesenen Mini-Geschichtchen oder Anekdoten. Warum enthalten Sie dem Hörer vor, den vom Komponisten gewollten spannungsreichen Übergang von einem langsamen, getragenen Mittelsatz zu einem schnelleren Schlusssatz mit zu erleben? Dieser Moment ist doch Teil des Gesamtwerkes!

Vivaldi (1678 - 1741) kommt jetzt gerade richtig gut. Und Il Giardino Armonico noch besser. Wann könnten die mal wieder zum NDR kommen? Da könnte man einen ordentlichen Rummel veranstalten. Und die aktuelle Kulturberichterstattung ist zwei Tage lang gesichert. Soll sie auf alles eingehen? Hm, nein. Das wird zu viel, ist vielleicht auch zu anstrengend. Das hätte Herr Romann dann doch lieber selbst tun sollen. Anfang und Ende reichen: Einzelsätze. Das ist doch schon schwierig genug. Und, ja! - Lichtblick - ihr Argument ist der Hörer. Nein, nicht Herr Schrader, der ist zu kritisch. Nein, nein, der Andere, der Hörer aus den Umfragen. Ja der, das ist doch fein. Keiner kann da etwas sagen (weil ihr Sender die Fakten dazu in seinem Safe als „Geschäftsgeheimnis“ hütet, da passt sie wirklich auf):

Kulturprogramme werden heute tagsüber überwiegend zur Begleitung, zum Teil mit kürzerer „Verweildauer“, gehört.

Oh, Wagner (1813 - 1883), Rienzi-Ouvertüre! Wie frisch er doch als junger Künstler komponiert hat! So frisch, wie in einem harmonischen Garten. Was heißt „überwiegend“? Der „überwiegende“ Teil aller an klassischer Musik Interessierten? Oder der „überwiegende“ Teil der tatsächlichen NDR-Kultur-Hörer heute? Oder vielleicht der „überwiegende“ Teil des Trupps, den Herr Romann oder wer auch immer für eine Geschmacksbefragung zusammen getrommelt hat?

Ach, Clostermann! Sei doch nicht so kleinlich. Behauptet ist verkündet, verkündet ist beschlossen, und so sind es halt Tatsachen in dem Bericht von Frau Mirow.

Die Bereitschaft, sich längeren, in sich geschlossenen Werken zu widmen, hat leider deutlich nachgelassen.

Ob das so stimmt? Tja, „leider“. Stopp! Warum schreibt sie das? Ach, ich verstehe: NDR Kultur macht nur das, was der Hörer will. Nein, nicht Herr... Der ist zu aufmerksam. Der Andere, der aus ihrem Safe. Gegensteuern? Sich für den Bildungs- und Kulturauftrag einsetzen? Nicht nötig. Cembalokonzert von Bach. Jaaa, Johann Sebastian (1685 - 1750). Neinnn, nicht das ganze Werk, nur den ersten Satz. Sonst schaltet Frau Mirow ab. Es spielt Perahia, Klavier (oder Flügel?). Er ist wirklich der Größte. Diese Ausstrahlung, wenn man ihm beim Spiel zuschaut. Das hat auch eine Moderatorin vor kurzem so gesagt. Cembalo? Egal, spielt Perahia nicht. Darüber regt sich doch nur Clostermann auf, das soll er auch, so frech wie er ist... Wenn schon eine Harald-Schmidt-Fernsehshow „Grundversorgung“ ist, dann ist so ein Bildungsauftrag doch weich wie Butter. Ok, „Bildungsauftrag“ kommt später. Als verbale Zugabe. „Bereitschaft hat leider deutlich nachgelassen“. Leider nicht zu ändern. Leider. Da kann doch der NDR nichts dafür. Und was folgt nun aus den beiden neuen Hörer-Gewohnheiten?

Aus diesem Grund spielen wir auf NDR Kultur kürzere Werke bzw. einzelne Sätze aus Sinfonien, Solokonzerten oder Concerti Grossi. Wir achten dabei darauf, dass diesen einzelnen Sätzen eine innere Geschlossenheit zugrunde liegt.

Das sitzt. Wer wagt es, das Gegenteil zu behaupten? Tusch, Fandango. Von Amadeo Vives (1871 - 1932). Stimmt, das 20. Jahrhundert darf der Sender doch nicht vergessen.

Sollen die Lebensdaten bei den Komponisten ein Hinweis darauf sein, dass zwischen ihrer Lebenszeit vorwärts oder rückwärts gesehen große Zeitsprünge bestehen? Wie abwegig, kleinlich, gar akademisch. Mit akademisch will NDR Kultur ja gar nichts mehr zu tun haben, das schreckt doch nur ab.

Musikpsychologie muss her, die kittet alles. Die ist ja auch schon bei der Pop-Software drin. Vives nach Vivaldi? Nein, das ist albern. Vivaldi zwischen Pleyel und Wagner, dann Bach zwischen Wagner und Vives, das passt doch bestens zusammen:
- Solistische, etwas müde Brillanz (Pleyel)
- Erfrischung am Nachmittag (Vivaldi)
- Heroisch, aber nicht übertrieben (Wagner)
- Heroisch, jetzt wirklich (Bach + Perahia)
- Finale furioso, die Musikuhr nennt es „Closer“ (Vives).

Welch eine Dramaturgie. Diese innige Harmonie. Diese „innere Geschlossenheit“. Fehlt nur noch die Chorprobe aus „Zar und Zimmernmann“: „Oh wie schön...“ Das hätte doch glatt der Computer mit der Musikuhr auch bringen können!

Und man kann doch dabei gut arbeiten. Und bestens überzeugen.

Am Tag, als die Wellenchefin ihren Brief für Herrn Schrader schreibt (16. November 2004), sendet NDR Kultur während der Sendung „Klassisch unterwegs“ (sie dauert von 14.00 bis 19.00 Uhr) unter anderem:
12. Ignaz Pleyel, Sinfonia concertante F-dur, daraus: Tempo di Minuetto. Allegro (2. Satz) - Presto assai (3. Satz) mit Jakub Dzialak (Violine), Riccardo Bovino (Klavier) und dem Züricher Kammerorchester, Ltg.: Howard Griffiths
13. Antonio Vivaldi, Mandolinenkonzert C-dur, RV 425, daraus: Allegro (3. Satz) mit Duilio Galfetti(Mandoline) und dem Ensemble Il Giardino Armonico, Ltg.: Giovanni Antonini
14. Richard Wagner, Rienzi (Oper), daraus: Ouvertüre mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Ltg.: Giuseppe Sinopoli
15. Johann Sebastian Bach, Klavierkonzert E-dur, BWV 1053, daraus: 1. Satz mit Murray Perahia (Klavier), Academy of St. Martin-in-the-Fields, London, Ltg.: Murray Perahia
16. Amadeo Vives, Dona Francisquita, daraus: Fandango mit dem English Chamber Orchestra, London, Ltg.: Enrique García Asensio

Zitate aus der Antwort für Herrn Romann:
Die Bereitschaft, sich längeren, in sich geschlossenen Werken zu widmen, hat leider deutlich nachgelassen.
Frau Mirow antwortet für Herrn Romann
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