NDR Kultur - Korrespondenz

zu:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal
Generelle Trendwende in der Hörfunknutzung

Von Gernot Romann, NDR Programmdirektor Hörfunk

Die Aufgeschlossenen

Leserbrief von Frau M. Siebert

16. September 2004

Herrn
Gernot Romann
NDR Programmdirektor Hörfunk
Rothenbaumchaussee 132
20149 Hamburg
Kopie an:
www.dasganzewerk.de
NDRKultur KlassikClub

Sehr geehrter Herr Romann,

Mißbrauch des
KlassikClub
Magazins
als KlassikClub Mitglied protestiere ich dagegen und empfinde es als eine Zumutung, daß Sie das KlassikClub Magazin als Forum für Ihre Polemik mißbrauchen gegen diejenigen Hörer, die mit dem Ende der Musikkultur tagsüber bei NDRKultur nicht einverstanden sind. Ich finde es reichlich instinktlos, wenn man weiß, daß tausende KlassikClub Mitglieder wieder ausgetreten sind, weil sie von der "Notwendigkeit der Trendwende" in der Art, wie Sie sie vertreten, nicht überzeugt sind. Diese Leute werden Sie auch nicht mit einem Frontalangriff auf die "Eliten der Minderheit" und auf ihre "alten" Hörgewohnheiten überzeugen. Mit demselben Recht oder noch größerer Berechtigung dürfte dann auch ein Artikel der Kritiker der "Trendwende bei NDRKultur" im Magazin erscheinen, der die Mitglieder zu Wort kommen läßt (übrigens ganz normal Begabte und Denkende mit gesundem Menschenverstand und Qualitätsbewußtsein), denen der Kulturschock bei NDRKultur Sorge bereitet. Um sie wieder mit ins Boot zu holen, bedarf es keiner kalkulierten Schlagwörter als Argumente und Polemik, sondern tönender Beweise in Form eines abwechslungsreichen Programms, das trotzdem nicht an Substanz verliert, vor allem Musikstücke in ihrer vollen Länge erklingen läßt.

Nicht umhin kommen Sie um das Eingeständnis, daß tagsüber ganz selten ein ganzes mehrsätziges Werk gesendet wird. Sie sollten sich einen ganzen Tag lang (von 6 bis 19 Uhr) NDRKultur anhören müssen, um zu verstehen, was wir meinen. Das hat nichts mehr mit dem Auftrag eines öffentlich-rechtlichen Senders zu tun und mit Musikkultur schon gar nicht.

Sie verwechseln
Ursache und
Wirkung
Sie verwechseln mit Ihrem Frontalangriff auf die Kritiker Ursache und Wirkung. Die Leute reagieren ärgerlich (ich auch), weil der Sender so arrogant geworden ist (nicht umgekehrt!) und weil sie jetzt tagsüber völlig ausgeklammert werden. Sie sprechen von Verunglimpfung und verunglimpfen im selben Atemzug die Hörer, die Ihren Sender jahrzehntelang getragen haben und den Qualitätsverlust nicht einfach hinnehmen wollen. Wir bekämpfen Sie nicht, wir möchten, daß unsere Hörgewohnheiten tagsüber auch berücksichtigt werden. Sie aber reagieren nach der Devise: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!

Abjagen der
Hörer von
KlassikRadio
Es steht jedem Menschen gut an, die Argumente der anderen Seite aufzunehmen, zu prüfen und zu vermitteln, das zeugt von Toleranz und menschlicher Größe. Sie aber beharren auf Ihren einfachen und polemischen Statements und dem Recht auf Ihrer Seite durch angeblich gestiegene Hörerzahlen. Und in dem alleinigen Argument des Höreranteils und dem Abjagen der Hörer von KlassikRadio erkennt man leicht den eigentlichen Motor für Ihr Verhalten. Um den Fortbestand von Musikkultur in unserem Land und ihre angemessene Vermittlung geht es zu allerletzt. Es ist Machtpolitik pur, und dafür ist mir der NDR, mit dem ich mich immer sehr identifiziert habe, jetzt total verleidet.

Wer ist
eigentlich
"aufgeschlossen?"
Sie erwähnen immerzu die wissenschaftlichen Forschungsmethoden, Media-Analyse, die gewissenhaften und umfangreichen Befragungen. Gerade daran habe ich meine Zweifel. Ich bin mit sehr vielen Musikliebhabern in Kontakt und in Konzerten, treffe dort nur "alte" und keinen einzigen dieser "neuen" Hörer, und merkwürdigerweise ist bisher kein einziger von ihnen befragt worden. Sind die Wünsche der Stammhörer ausgeklammert, weil sie gar nicht befragt wurden oder werden ihre Aussagen ignoriert? Daß die Stammhörer zufrieden sind mit dem neuen Programm, ist ja wohl reines Wunschdenken Ihrerseits. Irreführend ist Ihre tendenziöse Unterscheidung in "traditionell" und "aufgeschlossen". Ich zähle bei Ihnen zu den "traditionellen", in Wahrheit gehöre ich aber zu den aufgeschlossensten Musikhörern, die gern auch Neues, Ungewohntes und Musik des 20. Jahrhunderts hören. Die von Ihnen als "aufgeschlossen" Betitelten sind aber diejenigen, die immer dieselben Ohrwürmer hören wollen. So wenden leichtfertige Statements, die sich als Worthülsen erweisen, sich gegen Sie selbst und entlarven den oberflächlichen Umgang mit dem Thema.

Apropos Radioprogramm ist kein Konzertsaal: Als langjährige intensive Radiohörerin weiß ich, daß es für viele Musikliebhaber, die auf dem Lande wohnen, doch so ist. Auch für ältere Menschen, die nicht mehr ausgehen können, ist das Radio auch tagsüber Ersatz für Konzertbesuche. Und es gibt viel mehr Menschen, als man glaubt, ohne CD-Player und ohne CD's.

NDR Kultur
führt jetzt zum
Nebenbeihören
Nun noch zu Ihrer Selbstbelobigung als Qualitätsprogramm, mit interessantem kulturellen Wort, unverwechselbar originellem Kultur- und Klassik-Programm mit intelligentem Anspruch. Da widersprechen Sie sich nun selbst, geben Sie doch zu, sich tagsüber an den Nebenbei-Hörern mit einfachen Ansprüchen, die populäre klassische Musik hören wollen, zu orientieren. Da klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander: Unter verschiedenen Mottos gibt es den ganzen Tag ein und dasselbe, nämlich bruchstückhafte Musik, aneinandergereiht ohne inneren Zusammenhang, die Wortbeiträge genauso willkürlich. Wenn man jetzt tagsüber NDRKultur hört, hört man nach kurzer Zeit in der Tat nur noch nebenher und nimmt die Musik gar nicht mehr wahr. Sie werden nicht umhinkommen, zwischen den beiden unterschiedlichen Hörgewohnheiten einen Kompromiß einzugehen, damit die "Zuhörer" auch auf ihre Kosten kommen. Es kann doch nicht schwer sein, diese Forderung als legitim anzuerkennen und die "normale" Hörgewohnheit Ihrer Stammhörer ebenfalls zu bedienen, ohne sie als "konservativ" oder gar "elitär" zu diffamieren. Die Erfüllung des Wunsches nach 4 Stunden normaler Musiksendung tagsüber würde bedeuten, daß beide Gruppen zufriedengestellt wären.

In der Hoffnung, daß Sie Ihre Stammhörer noch auf Rechnung haben, verbleibe ich mit freundlichem Gruß

gez. M. Siebert

Lesen Sie dazu, geschrieben im Auftrag von Herrn Romann:
Antwort von Frau Mirow, 13. Dezember 2004 - ohne Gegenüberstellung
Ausweichmanöver + Monopolträume
Antwort von Frau Mirow, 13. Dezember 2004 - mit Gegenüberstellung
Ausweichmanöver + Monopolträume

Weitere Leserbriefe und Kommentare zu dem Artikel:
Beschwerde eines Hörers an den Intendanten des NDR, von P. Schwiesow
Nun entdecken alle Ihre Hörer wieder, was Lessing vom ‚denkenden Zuschauer/Zuhörer' schreibt Kommentar von G. Ossenbrunner, Bremen

Die Waage gleicht der großen Welt:
Das Leichte steigt, das Schwere fällt.

Lessing, zitiert von HWeblog
Es wäre ein positives Zeichen, wenn Sie sich mit dieser Bewegung in einen kritisch-konstruktiven Dialog begeben würden., Leserbrief von Tom Pause
Es wäre fair, wenn NDR Kultur mit seinen Clubmitgliedern im Magazin in einen Dialog träte, statt es als Propagandablatt zu mißbrauchen., Leserbrief von C. Meffert
Zurückweisung einer Beleidigung, Leserbrief von I. Kossebau
Nicht empfehlenswert: Medienpartnerschaft mit NDR Kultur in Niedersachsen
Leserbrief von L. Baucke
Ein dankbarer Hörer..., Leserbrief von H. Jühlke
Gibt es pünktlich um 19 Uhr einen wundersamen Geschmackswandel?
Leserbrief des Hörers Schrader aus Burgdorf

Artikel im KlassikClub Magazin 09/2004:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, September 2004
Vorläufer-Artikel im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, 27. Juli 2004
Hauptartikel vorher im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen
Leserbriefartikel von Theodor Clostermann zum Romann-Interview, 21. Juli 2004
Nicht warten, bis der Mond aufgeht
Interview von Lutz Lesle mit Programmdirektor Romann, 25. Juni 2004
NDR-Kultur: Ein Radioprogramm zum gepflegten Weghören
Bericht von Lutz Lesle über die Gründungsveranstaltung des Initiativkreises Das GANZE Werk, 17. Juni 2004