Materialien für eine Grundsatzdiskussion - Dokumentation

Das GANZE Werk, 10. Februar 2008 (Veröffentlichung)

Neue Erkenntnisse der ARD-Medienforschung zu Kulturinteressierten

Media-Perspektiven 05/2006 und 05/2007

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Inhalt:
Vorbemerkung
1.) Die ARD-E-Musikstudie (Media-Perspektiven 05/2006)
a.) Wer hört heute klassische Musik?
b.) Klassische Musik im Radio
2.) Die neue „MedienNutzerTypologie“ MNT 2.0 (Media-Perspektiven 05/2007)
a.) Vorstellung der neuen MNT 2.0
b.) „MedienNutzerTypen“/Auswahl
c.) Weiterentwicklung der „MedienNutzerTypologie“
d.) Radionutzung und MNT 2.0
Zitiert aus diesen fünf Artikeln

Vorbemerkung: Je breiter die Befragungsbasis in den Situationen ist, die die Artikel behandeln (nur noch geringes Interesse an klassischer Musik, nur einmal pro Woche Konsum von klassischer Musik über Radio und/oder Tonträger, schwacher Bewertungsmaßstab usw.) und je weiter die Zielgruppe sein soll, desto eher gibt es Anhaltspunkte für eine „begleitende“ Radiopraxis. Im Gegensatz dazu sind im Folgenden Ausführungen nach den ARD-Untersuchungen zum Potential der ernsthaft an klassischer Musik Interessierten zusammengestellt, zu der Gruppe also, die NDR Kultur tagsüber weitgehend vernachlässigt. - Die in der ARD-E-Musikstudie benutzen Begriffe „E-Musikaffine“ und „E-Musikoffene“ werden in den Aufsätzen nicht abgegrenzt und scheinen vergleichbar benutzt zu werden (vgl. z.B. S. 247, Absatz „Musikschule/Musikverein“).

1.) Die ARD-E-Musikstudie (Media-Perspektiven 05/2006)

a.) Wer hört heute klassische Musik? (Zitate)

...(Es gibt) in der Bevölkerung ab 14 Jahre 53 Prozent E-Musikoffene und 47 Prozent Nicht-E-Musikoffene. (Seite 246, siehe auch erste Grafik unten)

Für die E-Musikaffinen bedeutet klassische Musik ein Stück Lebensqualität, etwas, das ihr Leben genussvoller, facettenreicher macht. 70 Prozent der E-Musikaffinen sehen in klassischer Musik eine Bereicherung ihres Lebens. Knapp jeder Zweite empfindet klassische Musik nicht nur als angenehm und bereichernd, sondern für ihn ist diese Musik essenziell, sie ist ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. (...) Für mehr als 40 Prozent entspricht klassische Musik dem eigenen Lebensgefühl. (...) Für die Mehrheit der E-Musikoffenen gilt auch, dass ihr Interesse an klassischer Musik in den letzten Jahren eher zugenommen hat. (...) (Das) Bedürfnis nach häufigerem Konsum (klassischer Musik) ist bei allen Klassikaffinen über 30 Jahre besonders ausgeprägt. (S. 250)

In der Tendenz ist erkennbar, dass der Crossover-Bereich von Klassik, Weltmusik und Jazz eher eine Gruppe von Personen mit hoher E-Musikkompetenz anspricht. (S. 252)

b.) Klassische Musik im Radio (Zitate)

Zusammengefasst kommt die E-Musik-Potenzialanalyse für die einzelnen Medien zu folgenden Ergebnissen: Der „Weite Hörerkreis“ von E-Musik im Radio (mindestens einmal pro Woche) umfasst 19 Prozent der Erwachsenen, hinzu kommen 10 Prozent Seltennutzer (Äußerstes Gesamtpotenzial: 29 %). (S. 261)

(Es) lassen sich mit Hilfe multivariater Analysen vier Gruppen von E-Musikaffinen trennscharf voneinander unterscheiden: „Alltagshörer“, „Genießer“, „Stimmungshörer“ und „Zaungäste“. Kennzeichnend für „Alltagshörer“ (11%-Anteil) ist eine hohe Identifikation mit klassischer Musik sowie ein hohes Maß an Integration klassischer Musik in den Alltag. Für „Genießer“ (15 %) wird E-Musik als Bereicherung des eigenen Lebens empfunden. Es besteht der Wunsch nach häufigerem Genuss, der aus Zeitgründen nur eingeschränkt erfüllt werden kann. (S. 262)

„Genießer“ und „Alltagshörer“ bilden in starkem Maße die Gruppe derjenigen, die alle Ressourcen nutzen, um klassische Musik zu genießen, die eigene Platten- und CD-Sammlung, den Konzertsaal und natürlich das Radio. (...) Wer „Alltagshörer“ oder „Genießer“ klassischer Musik ist, nutzt nahezu alle Optionen und braucht gerade das Radio nicht nur als angenehme Begleitung, sondern auch als Quelle von Anregung und Inspiration. (S. 264)

Immerhin widmet sich gut ein Drittel der Klassikhörer [d.h. E-Musikoffene mit mindestens einmal pro Woche Konsum von klassischer Musik über Radio und/oder Tonträger] schon morgens und mittags (eher) aufmerksam der E-Musik. Auf der anderen Seite wird klassische Musik am Abend von mindestens einem Drittel der Klassikfans durchaus nur mit geteilter Aufmerksamkeit nebenbei gehört. (S. 267 f.)

Eine deutliche Mehrheit der Klassikhörer schätzt den USP [= unique selling proposition, Alleinstellungsmerkmal oder komparativer Konkurrenzvorteil] des Radios: Abwechslung, Überraschung und Neues entdecken sind wichtige Einschaltgründe und stellen die Vorzüge des Radios gegenüber der eigenen CD-Sammlung dar. Ungewöhnliche Einspielungen und Interpretationen kennen lernen, die Heranführung an weniger bekannte Musikstücke sowie Anregungen und Hinweise zur klassischen Musik sind ebenfalls wichtige Nutzungsmotive und besonders für die Kernzielgruppe der Klassiksender, die Neuen- und Klassisch Kulturorientierten, von großer Bedeutung. (S. 268)

„E-Musikoffene mit mindestens zweimal pro Woche Konsum von klassischer Musik über das Radio“ und „Moderationseigenschaften bei der Präsentation von E-Musik im Radio“: Es halten für „sehr wichtig“ oder „wichtig“ (Abb. 12, S. 270)

           sehr wichtig      wichtig      
          kompetent
seriös
engagiert
ausführlich
unterhaltsam      
locker
46 %
32 %
25 %
19 %
18 %
15 %
88 %
82 %
77 %
61 %
65 %
60 %

(Am) Nachmittag und Abend (ist) die Konkurrenz durch die individuelle Auswahlmöglichkeit aus der eigenen Platten- oder CD-Sammlung besonders stark und die Rezeption klassischer Musik im Radio geht deutlich zurück bzw. ist die Angelegenheit von „Spezialisten“ oder „Zufallshörern“. (S. 271)

2.) Die neue „MedienNutzerTypologie“ MNT 2.0 (Media-Perspektiven 05/2007)

a.) Vorstellung der neuen MNT 2.0

Im Jahr 2007 hat die ARD zur Darstellung des Mediennutzungsverhaltens der erwachsenen Bevölkerung in der Bundesrepublik eine neue „MedienNutzerTypologie“, genannt MNT 2.0, herausgebracht, die Erhebungen dazu sind von 2006. Die letzte (und erste) stammte aus dem Jahr 1998 mit Daten von 1997/98. Selbstverständlich sind die Menschen ca. acht Jahre älter geworden, hat das Internet bedeutend an Einfluss gewonnen und sind Jugendliche verstärkt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ferngeblieben. Doch für die an Kultur interessierten Erwachsenen hat sich nach den Ausführungen im Leitartikel von Ekkehardt Oehmichen nicht viel verändert. Erstaunlich ist deshalb, dass gerade für die „kulturnahen“ Menschen die „MedienNutzerTypen“ erheblich verändert, also neu definiert wurden. (Weitere Informationen im ersten Artikel der Reihe zur NMT 2.0: „Die neue MedienNutzerTypologie MNT 2.0“)

Die folgenden Informationen stammen aus dem zweiten Artikel der Reihe: „Zur Weiterentwicklung der MedienNutzerTypologie“ von Peter H. Hartmann und Inga Höhne (Tabelle 3, S. 237, Abb. 1, S. 238, Tab. 5 und Abb. 2, S. 239, und Abb. 3, S. 240).

Neu wurde der Typ der „Familienorientierten“ geschaffen, vorwiegend in der Altersgruppe von 30 bis 59 Jahren. Die eher „kulturfernen“ Gruppen sind begrifflich unverändert geblieben: „Junge Wilde“ (vor allem 14 - 29 Jahre), „Unauffällige“ (v.a. 30 - 49 Jahre), „Häusliche“ (v.a. 40 - 69 Jahre) und „Zurückgezogene“ (v.a. ab 60 Jahre), siehe Grafik unten.

In den strategischen Überlegungen des NDR zu NDR Kultur spielten die „Neuen Kulturorientierten“ die zentrale Rolle. Diese Gruppe gibt es nicht mehr, sie wurde aufgeteilt. Nur 21 % von ihnen kommen in die Nachfolgegruppe der „Modernen Kulturorientierten“ (v.a. 40 - 69 Jahre), 34 % kommen zu den „Zielstrebigen Trendsettern“ (v.a. 14 - 29 Jahre, Nachfolgegruppe der „Erlebnisorientierten“) und weitere 25 % zu den drei anderen Gruppen im mehr oder weniger „kulturnahen“ Teil.

Die Gruppe, die im Programm von NDR Kultur tagsüber eher ignoriert wurde bzw. die sich anpassen sollte, die „Klassisch Kulturorientierten“, wurde ebenfalls neu aufgeteilt. Nur noch 41 % von ihnen sind bei der neuen Nachfolgegruppe der „Kulturorientierten Traditionellen“ (v.a. ab 60 Jahre), während jetzt 21 % von ihnen in der neuen Gruppe der „Modernen Kulturorientierten“ (siehe oben) und 31 % in der neuen Gruppe der „Vielseitig Interessierten“ (v.a. ab 60 Jahre, Nachfolgegruppe der „Aufgeschlossenen“) sind.

Doch bevor der Eindruck der Beliebigkeit entsteht, sei darauf hingewiesen, dass die Zuordnungen zu den Gruppen nach ARD-Aussagen verbessert bzw. korrigiert wurden. So sind die Musikpräferenzen jetzt als Teil der grundlegenden Lebensstile Basisbestandteil der neuen Typen. Das heißt umgekehrt, dass die alte Typologie nach heutigen Erkenntnissen bedeutsame Fehler enthielt (siehe Zitat zur Musizierpraxis im Abschnitt „Weiterentwicklung der MedienNutzerTypologie“ unten).

Es folgen Ausschnitte aus den drei Artikeln.

b.) „MedienNutzerTypen“/Auswahl (Zitate)

Moderne Kulturorientierte: Im Unterschied zu anderen Nutzertypen ist die Nähe zum „Musischen“ prägnant: „bewusstes Musikhören“ oder „ein Instrument spielen“ sind häufig ausgeübte Tätigkeiten. (...) Der Stellenwert von Kunst, Literatur und Theater ist sehr hoch. (...) Im Musikbereich können sie als Grenzgänger zwischen den Stilen, zwischen Mozart und Jimi Hendrix, zwischen Klassik und Rock und Blues beschrieben werden. (...) In ihrer Programmwahl sind sie prinzipiell sehr öffentlich-rechtlich orientiert und gehören beim Radio zu den stärksten Nutzern von Kultur- und Informationswellen. (...) Die formale Bildung ist hoch: 50 Prozent haben Abitur oder ein Studium abgeschlossen. (S. 231)

Kulturorientierte Traditionelle: In ihrer freien Zeit nehmen sie die klassischen Angebote des kulturellen Lebens aktiv wahr, zum Teil gestalten sie sie auch mit. Dabei orientieren sie sich am Maßstab der traditionellen Hochkultur. Besucher klassischer Konzert- oder Theaterveranstaltungen gehören sehr häufig dem Typus der Kulturorientierten Traditionellen an. (...) Kulturorientierte Traditionelle haben ein stark überdurchschnittliches Interesse an Kunst, Kultur und Politik. (...) Beim Hörfunk werden insbesondere ARD-Kultur- und Informationsprogramme eingeschaltet, daneben auch Melodieformate. Die formale Bildung ist (...) sehr hoch: 23 Prozent verfügen über Abitur oder Hochschulabschluss. Der Anteil Berufstätiger liegt noch bei 25 Prozent. (S. 232)

c.) Weiterentwicklung der „MedienNutzerTypologie“ (Zitat zu einer wichtigen Änderung)

Schließlich erwiesen sich im Kurzinstrument der MNT 98 die Items zum aktiven Musizieren als zu dominierend bei der Identifikation der Klassisch Kulturorientierten. Aktives Musizieren ist zumindest bei jüngeren Personen nicht mehr als Indikator eines traditionellen Kulturbegriffs geeignet. Zur Achse zwischen Traditionalität und Modernität in der Kulturorientierung liegt das aktive Musizieren quer. (S. 235)

d.) Radionutzung und MNT 2.0 (ein Zitat und zwei Auswahltabellen)

An mehr als sechs Tagen in der Woche schalten im Durchschnitt auch die beiden kulturaffinen Typen der Modernen Kulturorientierten und Kulturorientierten Traditionellen ein. Allerdings ist ihre Zuwendungsdauer im Vergleich leicht unterdurchschnittlich, was auf ein - zumindest tendenziell - selektiveres Nutzungsverhalten hindeutet. (S. 255)

Für die „Modernen Kulturorientierten“ sind als Programmbestandteile „sehr wichtig“ (in %):

          Nachrichten
politische Berichterstattung
Musik
Verkehrshinweise
regionale Informationen
Wissenschaft und Bildung
kulturelle Informationen
Wirtschaftsinformationen
Moderation
Service- und Verbrauchertipps      
Informationen zur Musik
Veranstaltungstipps
Sportberichte
Humor/Comedy
Hörspiele
bunte, vermischte Meldungen
Musikwünsche von Hörern
Spiele, Quiz
77,1
48,3
45,1
41,8
34,8
29,7
28,0
27,7
25,0
17,9
13,5
13,5
12,5
12,5
10,5
9,4
5,1
0,7

Für die „Kulturorientierten Traditionellen“ sind als Programmbestandteile „sehr wichtig“ (in %):

          Nachrichten
Musik
Verkehrshinweise
politische Berichterstattung
regionale Informationen
Wissenschaft und Bildung
Sportberichte
Moderation
kulturelle Informationen
Service- und Verbrauchertipps
bunte, vermischte Meldungen
Informationen zur Musik
Wirtschaftsinformationen
Musikwünsche von Hörern
Humor/Comedy
Hörspiele
Spiele, Quiz
Veranstaltungstipps
68,1
43,1
32,6
29,7
28,0
17,7
13,1
12,7
12,7
12,3
10,9
9,1
9,1
7,6
6,9
5,1
4,3
4,0

Anmerkung: Sollten diese beiden „MediaNutzerTypen“ die Zielgruppen von NDR Kultur werden, ist zu erkennen, dass die besonderen und kurz gehaltenen Wortbeiträge mit den Kategorien „Spiele, Quiz“, „bunte, vermischte Meldungen“, „Veranstaltungstipps“ und „Service- und Verbrauchertipps“ im unteren Feld der Wichtigkeitsskala rangieren.

Zitiert aus folgenden Artikeln:

• Wer hört heute klassische Musik?, von Annette Mende und Ulrich Neuwöhner, MP 05/2006, S. 246 bis 258, http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/05-2006_Mende.pdf
• Klassische Musik im Radio, von Ekkehardt Oehmichen und Sylvia Feuerstein, MP 05/2006, S. 259 bis 272, http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/05-2006_Oehmichen.pdf
• Die neue MedienNutzerTypologie MNT 2.0, von Ekkehardt Oehmichen, MP 05/2007, S. 226 bis 234, http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/05-2007_Oehmichen.pdf
• MNT 2.0 - Zur Weiterentwicklung der MedienNutzerTypologie, von Peter H. Hartmann und Inga Höhne, MP 05/2007, S. 235 bis 241, http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/05-2007_Hartmann.pdf
• Radionutzung und MNT 2.0, von Andreas Egger und Thomas Windgasse, MP 05/2007, S. 255 bis 263, http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/05-2007_Egger.pdf

Zusammenstellung: Das GANZE Werk, 5. November 2007

Lesen Sie außerdem aus der Materialsammlung „Der Kulturauftrag im Hörfunk“,
herausgegeben vom Sprecherrat der Bürgerinitiative Das GANZE Werk (Nord),
24. Februar 2008:
„Der Kulturauftrag im Hörfunk“ (die ganze Broschüre, 16 Seiten)
Titelseite (mit Kulturniveau-Grafik)
Detailliertes Inhaltsverzeichnis, Hinweis und Herausgeber
A. Das Zuhören fördern
B. Staatliche Festlegungen zum Kulturauftrag: Staatsverträge, Bundesverfassungsgericht
C. Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ - Schlussbericht - Zitate
D. Kultursender und -sendungen für „Einschalthörer“
E. Neue Erkenntnisse der ARD-Medienforschung zu Kulturinteressierten
F. Die bisherige Programmstrategie für NDR Kultur